Plattform-Strategien in Marketing und Vertrieb: Chancen und Risiken in Zeiten von Marketplaces, Vergleichsportalen & Co.
Am 24.10.2019 veranstaltete die Wissenschaftliche Gesellschaft für Innovatives Marketing (WiGIM) e.V. den 14. Deutschen Marketing-Innovations-Tag zum Thema „Plattform-Strategien in Marketing und Vertrieb: Chancen und Risiken in Zeiten von Marketplaces, Vergleichsportalen & Co.“ im Marmorsaal des Presse-Clubs Nürnberg. Kompetente Referenten aus Wissenschaft und Praxis nahmen zu diesem Thema Stellung, um sich mit den rund 55 Teilnehmer/-innen über die Plattform-Ökonomie im Marketing-Kontext auszutauschen.
Prof. Dr. Andreas Fürst (Präsident der WiGIM) eröffnete den 14. Deutschen Marketing-Innovations-Tag und hob in seiner Einführung die aktuelle Relevanz von Plattformen für verschiedene Branchen, vom Einzelhandel bis hin zur Finanzwirtschaft, hervor. Plattformen ließen sich nach Art der Geschäftsbeziehung differenzieren. So existieren neben B2B- und B2C-Plattformen auch Plattformen im C2C-Bereich und Marktplätze, auf denen sowohl Verbraucher als auch Unternehmen agieren. Plattformen würden dabei beiden Parteien Chancen, aber auch Risiken bieten. Zum Beispiel könnten Unternehmen über Plattformen ihre Transaktionskosten zwar reduzieren, jedoch intensivierten diese auch den Wettbewerb. Im Kern stellen sich in diesem Kontext die Fragen, welche Bedeutung Plattformen künftig für das Marketing haben und welche innovativen Ansätze sich für das Marketing und den Vertrieb von morgen ergeben.
Welche Bedeutung hat die Plattformökonomie für das Marketing?
Daran anknüpfend referierte Dr. Holger Schmidt (Digital Economist, Speaker & Dozent, Ecodynamics / TU Darmstadt) zum Thema „Plattformen als Game-Changer der digitalen Ökonomie: Überblick und Implikationen für Marketing & Vertrieb“. Kennzeichnend für Plattformen sei die Interaktion zwischen Angebot und Nachfrage, in der Regel im Rahmen zweiseitiger Märkte. Diese Märkte würden sich jedoch durch neue Werteströme und Netzwerkeffekte zwischen den Anbietern zu dynamischen Ecosystemen verändern. Der Plattformbetrieb ermögliche komplette Inhouse-Customer-Journeys, zudem sei darauf Marketing zu marginalen Grenzkosten möglich. Künstliche Intelligenz bringe in diesem Kontext weitere Vorteile durch verbesserte Absatzprognosen und datengetriebene Produktion. Zalando beispielsweise strebe aktuell an, insbesondere über das Plattformgeschäft anstatt durch Eigenmarken zu wachsen. Abschließend appellierte Herr Dr. Schmidt, früh genug in das Plattformgeschäft einzusteigen, da es in den meisten Branchen enorme Umsatzpotentiale und Wachstumschancen bringe.
Im Anschluss daran hielt Martin Himmel (Geschäftsführender Gesellschafter, ecom Consulting) seinen Vortrag zu „Erfolgsfaktoren der Vermarktung über Marktplätze für B2C- und B2B-Anbieter“. Er stimmte Herrn Dr. Schmidt zu, indem er die Relevanz von Plattformen für nahezu alle Branchen hervorhob. So schaffte es z.B. das polnische Elektronik-Vertriebsunternehmen TIM SA, sich über Plattformen so weit zu transformieren, dass es sich - weg vom 25 Jahre alten Vertriebsnetzwerk über Großhändler - zu einem modernen Distributor mit nahezu 70% Umsatz über den Online-Kanal entwickelte. Amazon spiele auch im B2B-Sektor über Amazon Business mit mehr als einer Million Kundenaccounts und 150.000 Verkäufern eine wichtige Rolle. Die geeignete Marktplatzstrategie könne man beispielsweise auf Basis spieltheoretischer Grundlagen entwickeln. Einbezogen werden müssten hier unter anderem Aspekte wie die strategische Motivation, das geographische Gebiet, in dem verkauft werden soll, und die Art des Sortiments. Um den Plattform-Erfolg zu gewährleisten, sei insbesondere Operational Excellence, also eine Optimierung sämtlicher Prozesse und Systeme entlang der Wertschöpfungskette auf Basis einer IT-Infrastruktur, essentiell.
Jens Dissmann (Head of Segment Management & Marketing, Mercateo Gruppe) referierte darüber, “wie Netzwerkeffekte eines digitalen Ökosystems im B2B Mehrwerte für alle Plattformteilnehmer kreieren“. Möchte man seine Beschaffung digitalisieren, so stehe man vor der Herausforderung der „Digitalen Lücke“. Diese verhindere – als technologische Lücke zwischen E-Procurement-Systemen und B2B-Online-Shops - für mittlere Beschaffungsvolumina eine Digitalisierung des Beschaffungsprozesses. Marktplätze seien hier die beste Lösung, um die Prozesskosten im Longtail zu reduzieren. Mercateo stelle einen derartigen Marktplatz dar, der einen B2B-Marktplatz mit modularen, webbasierten E-Procurement-Funktionen vereint. Mercateos Netzwerk Unite biete die neutrale Infrastruktur für digitale Geschäftsbeziehungen, in der sowohl Einkäufer als auch Lieferanten von standardisierten Prozessen profitieren. Auch langfristige Kundenbeziehungen könne man über das Netzwerk etablieren. Entstehende Netzeffekte seien jedoch nicht kontrollierbar, weder in der Intensität noch in der Regionalität. Darauf gelte es sich vorzubereiten.
Welche innovativen Plattform-Ansätze gibt es aktuell in Marketing und Vertrieb?
Nach der Mittagspause stellte Sven Bornemann (Vorstandsvorsitzender, European netID Foundation (EnID)) den „Login Standard netID als Plattform zum effizienten Umgang mit den aktuellen Herausforderungen im digitalen Marketing“ vor. Die EnID ist eine private Stiftung bürgerlichen Rechts mit den Zielen, die Umsetzung des europäischen Datenschutzrechts mit einem gemeinsamen europäischen Login-Standard zu unterstützen. Im Kern gehe es darum, Nutzer-Anmeldungen und -Einwilligungen zur Nutzung von Onlineangeboten (Opt-Ins) branchenübergreifend, datenschutzkonform und transparent zu organisieren. Teilnehmende Anbieter seien dann für die Benutzerauthentifizierung, die Übertragung von Stammdaten und die Einwilligungs-Verwaltung zuständig. EnID agiere dabei als unabhängige und neutrale Plattform für den Markt. Im Vergleich zu den allmählich wegfallenden Cookies würden verbesserte Profile durch die Verknüpfung bestehender Accounts von Nutzern mit der Erhebung optionaler Daten ermöglicht. Dadurch ergebe sich v.a. eine Reichweiten- und Conversion-Steigerung, auch durch eine automatische Datenübernahme bei der Anmeldung und den Wegfall des Double-Opt-In Verfahrens. Als Vorteile für die Nutzer ergäbe sich v.a. die Hinterlegung nur eines zentralen Passwortes und damit der Wegfall zahlreicher unterschiedlicher Accounts bei verschiedenen Websites. Auch die völlige Kontrolle über die eigenen Daten werde gewährleistet.
Danach trug Anna Meyfarth (Chief Brand und Marketing Communication Manager, Collabary by Zalando) zu „Holistisches Influencer Marketing: Collabary als Schnittstelle zwischen Marke, Kunde und Influencer“ vor. Collabary diene als Plattform, um Werbetreibende und Konsumenten über Influencer zu verbinden. Das Marktvolumen von Influencer Marketing werde im deutschsprachigen Raum 2020 auf rund eine Milliarde Euro ansteigen. Dabei stehe insbesondere das Storytelling im Vordergrund, d.h. das Erzählen einer Geschichte rund um das Produkt. Diese sollte für den Konsumenten am besten interessant und vertrauenswürdig sein. Hierfür benötige es allerdings die richtig ausgewählten Influencer, um die angestrebte Zielgruppe zu erreichen. Die Plattform Collabary helfe vor diesem Hintergrund dabei, Influencer Marketing mittels Analytik zu optimieren, indem z.B. Kosten durch Zielgruppenüberschneidungen zweier Influencer vermieden werden. Influencer melden sich selbst auf der Plattform an und Collabary hilft Unternehmen auf dieser Basis dann, die richtigen Influencer für ihre Zielgruppe zu finden. Die Sportmarke Under Armour konnte so beispielsweise ihren Share of Voice um 35% steigern.
Im letzten Vortrag des Tagungstages referierte Mario Schellenberg (Head of Marketing & Sales, Deko Woerner) über „E-Commerce-Plattformen als Gamechanger für den Außendienst.“ Er wies auf die enorme Wichtigkeit der Digitalisierung im Vertrieb und Kundenservice hin und stellte dabei verschiedene Plattformen wie Zendesk und Shopware vor. Wichtig sei insbesondere die Konnektivität zwischen den verschiedenen Schnittstellen wie z.B. Website und Online-Shop verknüpft mit der mobilen Auftragsverwaltung und dem CRM-System. Herr Schellenberg konnte in seiner früheren Tätigkeit bei Emka Schmiertechnik durch entsprechende Digitalisierungsmaßnahmen beispielsweise die Auftragsverarbeitung für den Außendienst automatisieren. Beispielsweise können nun Preise vom Außendienst kundenindividuell direkt im Warenkorb geändert und Angebote mit wenigen Klicks kundenindividuell zugeschnitten werden. Über eine zwischengeschaltete Software (Middleware) könne das Product Information Management System mit zahlreichen B2B- und B2C- Marktplätzen verknüpft werden.
Zum Abschluss der Tagung fasste Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Diller die wichtigsten Erkenntnisse der Veranstaltung zusammen: Einige Wachstumserfolge über Plattformen seien sehr eindrucksvoll. Allerdings sei das Agieren mancher großer Plattformanbieter, welche die Gewinnmargen deutlich senken, kritisch zu sehen. Daneben gebe es aber auch einige sehr erfolgreiche Nischenanwendungen für Plattformen in Marketing und Vertrieb, wie die Beispiele Collabary und Emka gezeigt haben. Generell ist die Datengenerierung ein großer Vorteil von Plattformen, denn dadurch kann die komplette Customer Journey in-house erfolgen. Kunden agieren auf Plattformen dann, wenn dies für sie bequem ist und Preiseinsparungen möglich sind. Teilweise spiele auf Plattformen auch der soziale Aspekt eine Rolle. Als Anbieter stehe man vor der Entscheidung entweder der entsprechenden Plattform beizutreten oder mit dieser zu kooperieren. Größere und bekanntere Marken hätten hier bessere Chancen als kleinere. Der Außendienst werde sich wandeln, was nicht unbedingt einen Stellenabbau bedeute, sondern vielmehr eine Hinwendung zu anderen Aufgaben, häufig mit höherem Fokus auf IT.